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Reportage Schachboxen: Schachmatt im Boxring

MAGAZIN

Gerade im Zeitalter von Konsolen und Virtual-Reality Brillen greifen immer mehr Menschen wieder zu Dame, König und Springer. Und siehe da, die einst vielgepriesenen Schach-Computer sind heute völlig out. Man will seine Figuren wieder anfassen können. Wer es noch etwas handfester mag, kann sich zum Schachbox-Training anmelden. Wir haben uns angesehen, was hinter der verrückten Sportart steckt.

Schachboxen ist eine Sportart, die den Menschen ganzheitlich fordert. Ein Herausforderung, die auf den ersten Blick fast wie ein Scherz anmutet. Und das ist kein Zufall.

Eigentlich sollte es ein einmaliges künstlerisches Experiment werden. Eine aufsehenerregende Performance, die sich der niederländische Künstler Iepe Rubingh ausgedacht hatte. Rubingh, der in der Vergangenheit Wasser aus Bäumen regnen ließ und kübelweise Farbe auf belebte Straßenkreuzungen schüttete, um die Spuren der Autoreifen zum Kunstwerk zu erklären, ist ein Experte in Sachen Provokation und Medienwirksamkeit. Als Rubingh und ein Freund 2003 in einen Boxring steigen, um abwechselnd Schach zu spielen und zu boxen, sind nicht nur weit über Tausend Zuschauer gekommen, sondern auch Dutzende von Journalisten. Was für ein Spektakel: Zwei schwitzende Männer in Shorts, die mit bandagierten Händen Schachfiguren über das Brett schieben, um sich anschließend mit den Fäusten zu traktieren. Die Aktion wirkt so überzogen, dass man sie eigentlich kaum ernst nehmen kann. Kein Wunder, schließlich hat der Niederländer die Verbindung von Kampf- und Denksport aus einem französischen Comic abgekupfert.

"Letztendliche geht es beim Schachboxen um die Erschaffung des Klügsten und härtesten Menschen des Planeten."

Nach ein paar Runden passiert etwas, das Rubingh selbst nicht eingeplant hat. Als die nächste Boxrunde eingeläutet wird und die Scheinwerfer sich auf die beiden Gegner richten, ist jegliche Ironie plötzlich verpufft. Das Publikum ist gefesselt. Ein echter Kampf entsteht. »Wir haben das Match absolut ernst genommen«, erinnert sich Rubingh: »Ich hatte ja zwei Trainer, war extrem gut vorbereitet«. Das Duell kommt so gut an, dass an diesem Abend in Amsterdam ein neuer Trendsport geboren wird: das Schachboxen, »die Kombi-nation aus dem Nummer-Eins-Kampfsport mit dem Nummer-Eins-Denksport«, wie Rubingh es nennt.

Schachboxen ist ein Duathlon in elf Akten: Begonnen wird mit drei Minuten Blitzschach, dann folgt nach einer Minute Pause das Boxen und so weiter. 11 Runden à drei Minuten. Immer abwechselnd bis einer der Gegner schachmatt ist oder eben ko.
Es ist die Mischung aus Ehrgeiz und Demut, aus Brutalität und Raffinesse, die den Künstler reizt. »Schon ein bisschen wahnsinnig«, gibt er zu. Heute ist der 43jährige Präsident des Weltverbands im Schachboxen, Chessboxing ist sein Baby, seine Marke. Rubingh, der gerne Anzüge und überdimensionierte Sonnenbrillen trägt, hält Vorträge, bietet Coachings an und richtet internationale Turniere aus. Menschen in Russland und den USA, in Großbritannein, Iran und Indien begeistern sich für die hybride Sportart. Und natürlich ist Rubingh auch als Funktionär irgendwie Künstler geblieben. »Letztendlich geht es beim Schachboxen um die Erschaffung des klügsten und härtesten Menschen des Planeten«, sagt er und klingt damit eher nach Künstlermanifest als Sportverein.

Neben Berlin, wo Iepe Rubingh seit vielen Jahren lebt, ist München Deutschlands erfolgreichste Schachbox-Metropole. Das Boxwerk in der Maxvorstadt bietet schon seit 10 Jahren das entsprechende Training an. Gründer Nick Trachte ist wie sein Freund Rubingh ein Mensch, der gerne über den Tellerrand seiner Disziplin hinausschaut. Wie Rubingh spielt er mit den Klischees seiner Sportart, möchte er Brücken bauen. Der Boxer und Boxtrainer arbeitet mit Künstlern zusammen, veranstaltet in seinem Keller-Studio Lesungen und Konzerte. Mal bildet Trachte Schauspieler im Faustkampf aus, mal ist er mit seinen Boxern im Haus der Kunst zu Gast. Auf den Einfallsreichtum des ehemaligen Schlagzeugers ist Verlass. »Ich provoziere gerne«, sagt Trachte, »aber ich würde den Boxsport niemals durch den Kakao ziehen«.
Weite Wege haben nur die Schweineborsten und Ziegen- und Rosshaare hinter sich. Zumindest bisher. Geeignete Schweineborsten gibt es in den benötigen Mengen derzeit nur in Indien und vor allem China. Sie stammen aus dem Nackenhaar von domestizierten Wildschweinen, die auf über 3000 Metern von Bergbauern gehalten werden. »Leider schwindet diese Ressource aufgrund der Landflucht in Sichuan zunehmend«, erklärt Andreas Keller. Mit Engpässen rechnet er schon zum Ende des Jahres.
Die Suche nach Alternativen zur Schweineborste läuft auf Hochtouren. Dementsprechend investiert das Schwarzwälder Unternehmen in ein umfangreiches Forschungsprojekt, das die Möglichkeiten von Zellulose als abbaubarem Ersatzrohstoff untersucht. »Vielleicht«, sagt Andreas Keller, »werden wir in Zukunft auch mit Borsten aus Europa arbeiten können.« Noch ist das ungewiss.

Die Lage ist kompliziert, aber Jasmin Keller sieht auch dieses Problem als konstruktive Herausforderung. »Wir wollen ja nicht nur Traditionen bewahren, sondern auch ein kreatives Unternehmen sein«, sagt sie. Neue Materialien wie wasserfeste Holz-Kunststoff-Komposita können ihrer Meinung nach das Angebot des Unternehmens erweitern.
Jasmin Keller besucht Zukunftskongresse und beschäftigt sich intensiv mit gesellschaftlichen Strömungen und Innovationen. Denn auch ein scheinbar zeitloses Produkt, meint sie, unterliege natürlich Moden und Trends. Zum Beispiel? »Eigentlich wollten wir die Bartbürsten vor einigen Jahren aus dem Programm nehmen«, erzählt Andreas Keller und grinst. »Und plötzlich hatten wir dann ein Top-Seller-Produkt.«
Seine Sportart liebt er nicht zuletzt für ihre Vielseitigkeit. Neben einer guten Technik ist Boxen Kopfsache - psychische Stärke ist das entscheidende Element im Ring. »Ohne Strategie und Taktik hast du keine Chance. Weder im Ring noch auf dem Brett«. Davon ist Trachte überzeugt. »Ich habe selbst nicht geahnt, wie groß die Ähnlichkeiten zwischen Boxen und Schach sind«, sagt der drahtige Münchner. »Bei beiden geht es um psychologische Kriegsführung«. Die taktischen Elemente seien die wichtigste Schnittstelle zum Schachspiel. Für Trachte ist Schachboxen die »komplexeste Sportart der Welt«. Das Schwierigste, sagt er, sei das Umschalten. »Du bist noch voller Adrenalin, hast vielleicht zwei, drei gefangen, bist ein bisschen benebelt und musst dann Höchstleistung am Brett bringen.« Körperlich und geistig ist dieser Wechsel eine enorme Herausforderung. Im Training wird er deshalb besonders intensiv geübt. Erst Sandsack, dann Schach, dann Liegestützen oder Springseil, dann wieder Schach.

»Oft sind es Leichtsinnsfehler, die über das Match entscheiden«, erklärt Trachte. »Du kommst aus dem Ring heraus ans Brett und machst einen überhasteten Zug.«

Die meisten Kämpfe werden deshalb im Schach entschieden. Als Trachte seinen ersten Boxer nach Berlin schickte, verlor dieser gegen Iepe Rubingh in der letzten Runde. Schachmatt. Im Dezember 2017 kam die langersehnte Revanche im Glashaus Berlin. Daniel Biman aus München stand Mohamad Khadijah vom Intellectual Fight Club IX gegenüber. In Runde sieben konnte Trachtes Faustkämpfer die Entscheidung ebenfalls durch Schachmatt herbeiführen und somit den Sieg diesmal ins Boxwerk holen. Nun steht es unenschieden zwischen der Hauptstadt und der bayrischen Metropole. Rubingh und Trachte planen bereits die nächste Schachbox-Nacht. Diesmal im Boxwerk.

Text: Gero Günther, Fotografie: Peter Neusser

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